Angelika Wandt im Schulz-Kirchner Verlag
 anlässlich der Festschrift zum 65. Geburtstag von Armin Reese

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Jugendliche Schönheit als Vollkommenheit

Der Irrtum gegenwärtiger Gesellschaft
im Spiegel des „Dorian-Gray-Syndroms"



Angelika Wandt


Schlüsselbegriffe:
Jugend
Schönheit
Gesellschaft
Werte
Pädagogik



Einleitung:


„Die Jugend ist das einzige auf der Welt, das einen Wert besitzt. Wenn ich
entdecke, dass ich alt werde, töte ich mich.“
1

Dieser mehr als hundert Jahre alte Satz könnte aus unserer heutigen Zeit stammen.
Der Wunsch nach ewiger Jugend ist - heute mehr denn je - ein gesellschaftliches Thema,
ein Thema, das Menschen verbindet, aber auch trennt. Menschen suchen nach Vollkommenheit,
aber nicht nach Vollkommenheit im Geiste, nicht nach Vollkommenheit
der Seele, nicht nach Vollkommenheit des eigenen Tuns, sondern einer Vollkommenheit
im Äußerlichen. Eine Vollkommenheit, die soziale Akzeptanz
und Würdigung verspricht, nach dem Paradigma des Attraktivitätsstereotyps
„Wer schön ist, ist auch gut“. 2
Niemand wird behaupten, dies sei ein zentraler Irrtum unserer Gesellschaft.
Ich bin dieser Niemand. Inwiefern es sich um einen zentralen Irrtum
handelt, sei am »Bildnis des Dorian Gray« demonstriert. Oscar Wildes einziger
Roman3 aus dem Jahre 1891, in einer Zeitschriftversion bereits am 20.
Juni 18904 erschienen5, spielt im viktorianischen Zeitalter in London und Umgebung.
Am Beispiel der Hauptpersonen Dorian Gray, Basil Hallward und
Lord Henry Wotton wird gezeigt, wie die scheinbare Erfüllung eines ewigen
Menschheitstraums nur vordergründig glücklich macht, bei Licht betrachtet
aber zu Grausamkeit und sozialer Isolierung führt und letztlich den Tod nicht
verhindern kann.


1 Gruenter, R.: Oscar Wilde. Werke in zwei Bänden. Band 1, Frankfurt am Main /
Berlin / Wien 1976, S. 185.
2 Henss, R.: „Spieglein, Spieglein an der Wand...“: Geschlechter, Alter und physische
Attraktivität, Weinheim 1992, S. 58.
3 Ein Roman, der es aufgrund gewisser Motive schon fast verdient, mit in die Kategorie
des englischen Schauerromans eingeordnet zu werden.
4 „I am charmed you like Dorian Gray. It is my best piece of work, and I hope to
make it still better, when it appears in book form“ (Holland, M. / Hart – Davis, R.:
The complete letters of Oscar Wilde. London 2000, S. 443), Wilde an Arthur Howard
Pickering im Juli 1890, nach dem dieser die Zeitungsversion hochlobte.
5 vgl. Kunz, U.: „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“. Ästhetizistischer
Realismus in der europäischen Décadenceliteratur um 1900. Hamburg 1996, S.255

Dorian Gray, der noch unerfahrene narzisstische Dandy,6 lässt sich von
dem Künstler Basil Hallward, in dessen Atelier detailgetreu portraitieren. Der
Künstler Hallward und auch Lord Wotton, ein Freund des Genies, sind von
Dorians Erscheinung begeistert und schmeicheln der Eitelkeit des jungen
Mannes durch ihre Bewunderung. Es gelingt Lord Wotton, den wesentlich
jüngeren Lebemann „in seinen Bann zu ziehen und ihn binnen kürzester Zeit
zu einem überzeugten Schüler seiner hedonistischen Lehre zu formen, die in
der grenzenlosen Umsetzung individueller ästhetischer Genuß- und Reizvarianten
das höchste Ideal erkennt.“7 Damit entfremdet er ihn von Basil Hallward,
was dieser mit argwöhnischer Eifersucht zur Kenntnis nimmt. Angestachelt
von der Bewunderung der beiden Männer und überwältigt von dem Portrait
und der neuerlernten, das Schöne verherrlichenden Lebensform, wünscht
Dorian in einem gleichsam faustischen Moment,8 dass das Bild anstatt seiner
altern sollte. »Wie traurig das ist. Ich soll alt werden, häßlich und abstoßend.
Aber dieses Bild wird ewig jung bleiben. Es wird nie älter werden, als es heute,
an diesem Junitag, ist ...Wenn es doch umgekehrt wäre! Wenn ich ewig
jung bliebe und das Bild altern würde! Ich würde alles – alles dafür hingeben!
Ja, es gibt nichts in der ganzen Welt, das ich nicht dafür hingebe!«9 Im Folgenden
verliebt sich Dorian (vordergründig) in eine junge Schauspielerin, die
er aber nur in der Ausübung ihrer Arbeit kennen gelernt hat, und verlässt sie
später, als diese die Liebe zu ihm über die Kunst stellt und damit nicht Dorians
Kunsthochschätzung folgt. Die junge Schauspielerin bringt sich daraufhin um.
Im Zuge des Selbstmordes beobachtet Dorian erste Veränderungen an den
Gesichtszügen des Bildes. Während sein eigenes Gesicht im Laufe der folgenden
Zeit ebenmäßig, jung und schön bleibt, wird das Bild im Laufe der Zeit
immer älter und hässlicher. Alle moralischen Verfehlungen, die sich Dorian
im Laufe des Lebens leistet, spiegeln sich nicht in seinem eigenen Gesicht,
sondern in grausamster und für Dorian selbst erschreckenster Weise auf dem
Gemälde wider.


6 Zu einer ausführlichen Beschäftigung mit der Begrifflichkeit des Dandys und einer
literaturgeschichtlichen Einordnung siehe Gnüg, H.: Kult der Kälte. Der klassische
Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart 1988.
7 Kunz (wie Anm. 5), S. 254.
8 Das Böse tritt nicht als Person auf, aber: „Es heißt, er soll dem Teufel seine Seele
für ein hübsches Gesicht verkauft haben.“ (Wilde, O.: Das Bildnis des Dorian
Gray, Stuttgart 2001, S. 266).
9 Gruenter (wie Anm. 1), S. 184. Jugendliche Schönheit als Vollkommenheit

Dorian überkommt Furcht vor dem eigenen Abbild, so dass er
es auf dem Dachboden vor seinen Augen und denen der Öffentlichkeit zu
verbergen sucht. Zugleich kommt er durch seine konstante Jugendlichkeit in
der englischen Gesellschaft ins Gerede: einerseits ist sie abgestoßen und meidet
ihn, zugleich ist sie andererseits fasziniert und sucht ihn auf. Dorian selbst
versucht, diesem Gerede durch Reisen und seltene Ergötzungen10 zu entfliehen.
Sein Freund Basil wagt einen Versuch, ihn von seinem amoralischen
Lebenswandel abzubringen (ein Zeichen dafür, dass er sein letzter wirklicher
Freund ist), worauf ihn Dorian in die Veränderungen des Bildes einweiht.
Dorian ermordet den Künstler, da er in ihm den Verantwortlichen für die Veränderungen
sieht, und lässt ihn durch einen ehemaligen Studienfreund, den er
in seine Schuld gebracht hat, mit Hilfe von Chemikalien aus dem Wege schaffen.
In einem Akt letzter Verzweiflung möchte Dorian nun auch das Gemälde
mit einem Messer zerstören, tötet dabei aber sich selbst. „Sein Diener findet
ihn erstochen vor dem Bildnis liegend; er selbst ist gealtert und gezeichnet
vom Leben, das Portrait in jugendlicher Schönheit und Vollkommenheit.“11
Dorian hat drei Menschenleben zerstört, ehe er selbst stirbt: die Schauspielerin,
die aus Liebeskummer Suizid begeht, später dann Sybils Bruder James,
der bei einem »Jagdunfall« ums Leben kommt, und schließlich auch den
Künstler, der durch seine Hand stirbt. Zweimal schützt ihn der Tod des anderen
davor, dass seine »Maske« aufgedeckt wird. Der letzte Mord ist von hoher
symbolischer Bedeutung: das unnatürliche Geschöpf tötet seinen Schöpfer und
tut damit in einem Akt der Ironie den ersten Schritt zur Wiederherstellung der
ursprünglichen (göttlichen) Weltordnung.
Das hat eine gewichtige literarische Tradition. So finden sich zahlreiche
Parallelen zu Mary Wollstonecraft Shelly’s Schauerroman »Frankenstein«
(1818 erschienen) mit seiner gelungenen „Kombination der Prometheus-,
Faust- und Luzifer – Mythen“.12 Zunächst zögert man vielleicht, Dorian Gray
als „Monster“ zu identifizieren, denn anders als Frankensteins hässliches Geschöpf
aus blanken Knochen und Leichenteilen stößt Dorian Gray die Gesellschaft
gerade mit seiner konstanten jugendlichen Schönheit ab.


10 Diese Sammlungen an edlen Materialien und Kunstwerken werden in der Literatur
mit privaten Weltausstellungen gleichgesetzt (vgl. Janz, R.-P. / Laermann, K.: Arthur
Schnitzler: Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de Siècle, Stuttgart
1977, S. 102).
11 Kunz (wie Anm. 5), S. 255.
12 Jens, W. (Hrsg.): Kindlers neues Literaturlexikon, München 1991, Band 15, S. 392

Doch wie Prometheus erhebt er sich gegen den Willen Gottes, in dem er dem Bild sein
eigenes Altern aufbürden will und damit dem gottgewollten Lauf der Dinge
entgegen tritt, wie Faust will er den glücklichen Augenblick zur Ewigkeit
machen und Luzifer gleicht er, in dem er aufhört zu altern, denn ohne Alter zu
sein (gleich ob ewig jung oder ewig alt) ist ein Attribut des Göttlichen.
Auffallend ist ein weiterer literaturgeschichtlicher Bezug: Das Portrait
nimmt eine besondere Stellung innerhalb des Romans ein. Es spielt mindestens
eine so raumgreifende Rolle wie eine der Hauptpersonen selbst. Ohne die
Konstruktion des Bildes, das hier nur eine Metapher für die Exilbehausung der
Zeit darstellt, könnte die Botschaft des Romans nicht existieren. Von Beginn
bis zum Ende hält das Bild die Schicksalsfäden der Protagonisten in Händen
und bewegt die zentralen Gestalten gleich Marionetten. Zuerst ist es nur ein
(zugegeben gelungenes) Porträt, das von einem Künstler auf der Höhe seiner
Karriere geschaffen wird. Spätestens mit dem Wunsch Grays nach ewiger
Jugend kommt es aber zu einer Verselbstständigung des Gemäldes mit Folgen
für Hallward und auch für Gray. Die moralischen Entgleisungen Grays, die
sich nur auf dem Bild abzeichnen, zum ersten Mal als er Sybil verlassen hat,13
führen zu einer schleichenden Entfremdung zwischen Künstler und (ehemaligem)
Modell und Freund. Gray fühlt sich von dem Bild und der Furcht vor
Entdeckung der Veränderungen bedroht. „Das Gemälde verkörpert folglich
[...] einen Teil seines Bewußtseins, das Gewissen, und führt, sozusagen als
sein schlechteres Alter ego, ein doppelgängerisches Eigenleben.“14 Gray begreift
schnell, welchen Fehler er mit dem Wunsch getan hat (bezeichnet er das
Bild doch als die „Maske seiner Schande“,15 eine Bezeichnung, mit der er dem
Leser allerdings auch entdeckt, dass er sich seiner Entgleisungen gewahr ist),
aber dennoch ist er unfähig, sich gegen die Macht, die Anziehungskraft des
Bildes zu wehren; so geht er auf das Flehen Hallwards zu beten, gleichsam
einen Gegenzauber versus die Macht des Bösen anzuwenden, nicht ein,16 Ginge
er auf den Gegenzauber ein, bestünde die Gefahr, dass er die Schuld seiner
Taten, die er zuvor auf das Bild übertragen und somit vor der Öffentlichkeit
verborgen hat (was dazu führte, dass er ungeschoren davon kam), auf sich
zurück führt und damit die Vollkommenheit und Makellosigkeit (im öffentlichen
Ansehen) verloren ginge. Das hat auch eine biographische Verankerung.


13 vgl. Wilde (wie Anm. 8), S. 127.
14 Kunz (wie Anm. 5), S. 285.
15 Wilde(wie Anm. 8), 2001, S. 135.
16 vgl. Wilde (wie Anm. 8), S. 219

Zwischen dem Roman und dem Leben des Autors gibt es mehrere Parallelen,
wobei an dieser Stelle nur auf die Parallele des Bildes eingegangen wird: Wilde
ließ seinen »Dorian«17 durch einen befreundeten Maler namens Rothenstein
im Jahre 1893 portraitieren. „Dear Will, i should like Bosie to be framed. I
think a black and white frame with no margin or mounting. The lovely drawing
is complete in itself. It is a great delight to me to have so exquisite a portrait
of a friend done by a friend also, and thank you very much for letting me
have it.“18 Allerdings unterscheidet sich die reelle Handlung von der Buchvorlage
dahingehend, dass diesmal das Bild beim Auftraggeber verbleibt und
nicht an den Abgebildeten weitergegeben wird.
Das Motiv des Bildes spielt in der Literatur des Fin de Siècle eine große
Rolle: „In Bildern die eigene Identität zu suchen [...] gehört zu den bevorzugten
Themen der Jahrhundertwende. Wie kaum eine andere vor ihr, ausgenommen
wohl die Frühromantik, hat sie die Kunst selbst, zumal die bildende,
zu ihrem Thema gemacht.“19 Herausragende Werke zu dieser Thematik sind
neben dem Bildnis des Dorian Gray »Tod des Tizian« von Hugo von Hoffmannsthal
(1892) und »Frau mit dem Dolche« von Arthur Schnitzler (1901).
Der Kunst wird seit je her „die Fähigkeit zugesprochen, die biologische
und soziale Zeit [und damit auch die Schrecknisse von Alter und Tod] auszuhebeln
und eine zeitlose Ewigkeit zu kreieren, die Alterslosigkeit schenkt.“20
Stets hat sich die Kunst mit dem Tode auseinandergesetzt und oft genug versucht,
ihm ein Schnippchen zu schlagen. Vermutlich stecken derartige Vorstellungen
auch schon ansatzweise hinter den Höhlenmalereien. Ein modernes
Beispiel ist der französische Künstler Jean Tinguely, der aus totem Material
neue, gleichsam lebendige Kunstwerke entstehen lässt. „Mit der Vergänglichkeit
war ich schon immer auf gutem Fuß. Ich beschäftige mich mit dem Tod,
um ihn zu bekämpfen. ... So mache ich ein Spiel, einen Tanz, einen Totentanz
mit diesem Tod. Ich spiele mit ihm, ich versuche ihm die lange Nase zu machen,
mit ihm Unfug zu treiben.“21 Durch diese Arbeit gelingt dem Künstler
etwas, was mit Hilfe von Schönheitscremes und kosmetischen Operationen kaum möglich
ist: er schafft etwas Lebendiges und lebt dadurch nach seinem Tode weiter.


17 Lord Alfred Douglas, genannt Bosie, ein Lebensabschnittsgefährte Wildes, der
wesentlich jünger war als der Schriftsteller.
18 Holland / Hart – Davis (wie Anm. 4), S. 564.
19 Janz, R.-P. / Laermann, K., (wie Anm. 10), S. 96.
20 http://www.culture.hu-berlin.de/HB/volltexte/texte/jugend.html, 18.01.2003, S. 1.
21 Zitat aus der Ausstellung „Stillstand gibt es nicht“ von Jean Tinguely in der Kunsthalle
Mannheim vom 06.10.2002 bis 19.01.2003

In unserem Roman findet aber eine ironische Umkehrung statt: da sich Dorian
durch seinen Wunsch selbst zu einem Kunstwerk stilisiert, bleibt dem
Alter, der Zeit nicht mehr, als eine Zuflucht im »Zwilling« zu suchen, denn
„aufzuheben ist sie nicht: ihr Sichtbarwerden in den Verrunzellungen des Gemäldes
gewinnt eine wahrhaft unheimliche Macht über denjenigen, der die
Kunst des Alterns nicht gelernt hat, über Dorian Gray also, den ewig Jugendlichen,
den der Anblick seines alternden Bildes in Verzweiflung treibt, bis er,
als anderer Teufelsbünder, in einem neuerlichen Akt der Bildvertauschung, als
rotte Leiche endet.“22
Doch nicht nur die literarische und künstlerische Tradition ist interessant,
denn der Roman ist in seiner Thematik nicht im luftleeren Raum entstanden,
sondern in einer historisch greifbaren gesellschaftlichen Situation. In vieler
Hinsicht kann er auch als Gesellschaftskritik aufgefasst werden: zum einen
expressis verbis durch seine Protagonisten, z. B. an der Kleidung der damaligen
Zeit,23 aber vor allem, weil dem Leser eine Geschichte aus der „besseren
englischen Gesellschaft“ erzählt wird, die über Vorgänge berichtet und z.B.
offen legt, wie man mit unerwünschten Kindern und unstandesgemäßen Beziehungen
umgegangen ist.24 Aber nicht nur die »oberen Zehntausend« und ihr
Verhalten erhalten eine Rüge, auch die Verlogenheit und Lasterhaftigkeit der
Mittelschicht wird erwähnt, natürlich aus der adligen Vogelperspektive. „Die
Mittelschicht tut ihre moralischen Vorurteile an ihren unkultivierten Esstischen
kund und tuschelt über das, was sie als Lasterhaftigkeit der besseren
Kreise bezeichnet, bemüht vorzugaukeln, sie verkehre in der feinen Gesellschaft
und stünde mit den Leuten, die sie verleumdet, auf vertrautem Fuße. In
diesem Land braucht ein Mann nur vornehm und geistreich zu sein, damit
jeder x-beliebige sich den Mund über ihn zerreißt.“25 Daneben lässt sich aber
das Buch, trotz der persönlichen Motivationen, die Wilde wohl hatte, auch im
Punkte Schönheitswahn als Gesellschaftskritik verstehen, schon damals schien
für viele Menschen die äußerliche Erscheinung weit mehr zu bedeuten als die
sogenannten inneren Werte. Da Wilde selbst einem sehr ästhetischen Lebensprinzip
angehangen hat, wird ihm auch bewusst gewesen sein, welche seltsamen Blüten es treiben
kann und realiter auch immer wieder treibt, wenn Menschen einer Idee zu sehr anhängen.


22 http://www.culture.hu-berlin.de/HB/volltexte/texte/jugend.html, 18.01.2003, S. 1.
23 vgl. Wilde (wie Anm. 8), S. 45.
24 vgl. Wilde (wie Anm. 8), S.50ff.
25 Wilde (wie Anm. 8), S. 210

Von dieser konkreten gesellschaftlichen Verankerung aus kann das Phänomen
auch historisch verankert und zur weiteren Erhellung mit historischen
Erscheinungen verglichen werden. Selbstdarstellung (einschließlich Vortäuschung
falscher Tatsachen) war immer Teil der Überlebensstragie nicht nur
beim Menschen: die behaarte Spinne und der bunte Stichling, die Mimikry
und der Spiegel des Rehs sind nur willkürliche Beispiele aus der Biologie; der
mittelalterliche Ratsherr musste seinem Amt entsprechend würdig gekleidet
sein, der per Anzeige gesuchte „Kraftfahrzeugmeister für die Kundenberatung“
soll „einen zuverlässigen Eindruck machen“ und der Eisverkäufer sauber
wirken.
Besonders deutlich wird das Phänomen am burgundischen Hofzeremoniell,
das den Herrscher sichtbar von allen anderen trennt und über alle anderen
setzt, und an der barocken politischen Praxis und innerhalb derer am höfischen
Fest.26 Hier wird die Grenze zwischen Schein und Sein planmäßig verwischt -
man sieht nicht genau, wo die Kulisse in die Natur übergeht und umgekehrt -
und der Mensch, der nach Montaigne auf seinem Hintern sitzt, verschmilzt mit
seinem Kostüm, seinem Thron und seiner optischen wie akustischen Umgebung
zu einem Gesamtkunstwerk, das keine klare Grenze zum „Göttlichen“
hat einen wesentlichen Teil seiner Identität ausmacht. Aber doch nur einen
Teil! Es wird mehr von ihm erwartet, als auf dem Thron zu sitzen, und wenn
er seine Perücke verliert, bleibt er doch der König.
Anders bei Dorian Gray! Er ist nicht jemand durch Geburt und/oder eigene
Leistung, sondern seine Identität wird in der Hauptsache bestimmt durch die
Äußerungen seiner Umwelt. Das ist wohl immer so gewesen, aber er definiert
sich ausschließlich über die gesellschaftliche Wahrnehmung seines Aussehens,
und das ist neu. Vom barocken Herrscher wurden noch herrschaftliche
Taten erwartet: er hielt Hof, verteilte Gnadenerweise, errang Siege, noch der
alte Ludwig XIV. berührte die Kranken, um sie zu heilen; vom Adligen wurde
außer passender Kleidung zumindest Beherrschung der Etikette und „Kultur“
erwartet. Dorians Aussehen und Handeln klaffen dagegen weit auseinander,
darum altert das Bild, und selbst sein Aussehen widerspricht auf Dauer der
Erwartung, darum sinkt die gesellschaftliche Akzeptanz: er wird gemieden oder „begafft“.


26 Kurz dazu Reese, A., Zum höfischen Fest des Absolutismus, in: Richard Beilharz/
G. Frank (Hg.), Feste. Erscheinungs- und Ausdrucksformen, Hintergründe,
Rezeption, Weinheim 1991

Das ist problematisch, denn er lebt für und durch sein äußeres
Erscheinungsbild. Die anderen Punkte im Leben eines Menschen, die die Identität
ausmachen,27 sind im Leben des Dorian Gray von untergeordneter
Bedeutung, treten in den Hintergrund zugunsten der (wahnhaften) Suche nach
vollkommener Jugend und Schönheit.
Zweifellos ist Dorian Gray ein Auswuchs, nicht Standard, aber dieser
Auswuchs kann nur auf einem gewissen Standard gedeihen. Hier ist eine deutliche
Veränderung gegenüber dem Barock zu beobachten: die Personen, für
die das Aussehen entscheidend ist, kommen nicht mehr aus der zahlenmäßig
minimalen Oberschicht, sondern sind schon die „englische Gesellschaft“ einschließlich
des Mittelstandes, also keineswegs die überwältigende Mehrheit,
aber doch schon ein beachtlicher Prozentsatz. Und von da verbindet sich der
Roman mit unserer Gegenwart: die Zahl der Beteiligten hat sich im Zusammenhang
mit dem „Aufstand der Massen“ (Ortega y Gasset) ungeheuer gesteigert.
Heute sind so gut wie alle angesprochen: wer keine „verjüngende“
Operation oder Kur bezahlen kann, kauft wenigstens ein Schönheitswässerchen,
zieht sich jugendfrisch-bunt an und macht sich einen Pferdeschwanz.
Damit ist der Bogen zur Aktualität der Thematik gespannt. Immer mehr Menschen
in unserer Zeit sind auf der Suche nach gutem Aussehen, das mehr oder
weniger mit Jugend gleichgesetzt wird.
Nun ist es sicher kein Fehler, wenn sich Sechzigjährige noch voller
Schwung fühlen und auch so handeln und aussehen. Aber auf diesem Grund
gedeiht auch die Übertreibung. Wer seinen Lebensinhalt in gutem Aussehen
sucht, hat eigentlich schon verloren. Wer nach ewiger Jugend und ewiger
Schönheit greift, wird zumindest partiell zum Faust, Prometheus und Luzifer,
ist auf dem besten Weg, gegen die natürliche Ordnung einen von vornherein
aussichtlosen Kampf zu beginnen, der auch bei den heutigen technischen
Möglichkeiten und unbegrenzten finanziellen Mitteln nur vergängliche
Scheinerfolge bringen kann.
Diese krankhafte Suche nach gutem Aussehen und ewiger Jugend als Lebensinhalt
hat inzwischen immer mehr Menschen erfasst. Inzwischen sind es
so viele, dass es für ihre Erkrankung einen eigenen Namen gibt:
das Dorian–Gray–Syndrom.


27 „Der Begriff Identität bezieht sich zunächst in einem allgemeineren Sinn auf die
einzigartige Kombination von persönlichen, unverwechselbaren Daten des Individuums
wie Name, Alter, Geschlecht und Beruf, durch welche ein Individuum gekennzeichnet
ist und von allen anderen unterschieden werden kann.“ (Oerter, R. /
Dreher, E.: Jugendalter, in: Oerter, R. / Montada, L.: Entwicklungspsychologie.
Ein Lehrbuch. Weinheim, 3. Auflage 1995, S. 346)

Es wird beschrieben als narzisstische Persönlichkeitsstörung,28
bei der das eigene Ich im Mittelpunkt des Strebens und Denkens steht,
und damit kommen wir in einen medizinisch-psychologischen Traditionsstrang.
Persönlichkeitsstörungen gehören in den Bereich der Neurosenlehre,
die von S. Freud bereits im 19. Jahrhundert begründet wurde. Der Begriff
»Neurose« wurde erstmals im Jahre 1777 von dem schottischen Mediziner W.
Cullen geprägt, der darunter eine „Bez[eichnung] für alle Erkrankungen des
Nervensystems [...] ohne nachweisbare Ursachen29 verstand. Unter Freud
wurde der Neurosenbegriff modifiziert, nach seiner Theorie ist es eine psychische
Störung der Gesundheit, bei der nur die Symptome (z.B. Zwangshandlungen),
nicht aber die Ursachen an die Oberfläche treten, da die Motive des
inneren Konfliktes im Unbewussten liegen. Mittlerweile sind die Definitionsversuche
differenzierter, man führt die Neurosen auf psychische, auf organische,
aber auch auf erlernte Gründe zurück (und damit sind die Pädagogen
involviert!) und bedient sich daher bei der Klassifikation von Neurosen eines
integrierten Definitionsbegriffs,30 der alle drei Möglichkeiten subsumiert.
Narzisstische Persönlichkeitsstörungen31 gehören zu den Neurosen mit
psychischer Symptomatik (im Unterschied zu Neurosen mit körperlicher
Symptomatik und Charakterneurosen). Wenn Dorian Gray wahnhaft und mit
allen Mitteln seine Jugend und die damit immer wieder in Verbindung gebrachte
Schönheit erhalten will32, geht das einher mit ausgeprägter Furcht vor
Alter und Tod, wie man sie bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung normalerweise
vorfindet. Da der Narziß33 über besonders wenig innere Reservenverfügt, erwartet er von anderen eine Bestätigung seines Selbstwertgefühls.


28 Erinnert an den Narziss der griechischen Mythologie.
29 Peters, U. H.: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. München
/ Wien, 5. Auflage 1999, S. 369.
30 Siehe dazu Hoffmann, in: Hoffmann, S. O. / Hochapfel, G.: Neurosenlehre, Psychotherapeutische
und Psychosomatische Medizin, Stuttgart, 5. Auflage 1995, S. 9.
31 Zu einem Definitionsversuch von Persönlichkeit siehe Dittmann, V. / Stieglitz, R.
– D.: Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Erwachsener, in: Freyberger, H. J.
/ Stieglitz, R. – D. (Hrsg.): Kompendium der Psychiatrie und Psychotherapie.
Schweiz, S. Karger AG, 10. Auflage 1996, S. 217 – 232, hier: S. 218.
32 Es gibt neben anderen autobiographischen Zusammenhängen zum Buch auch bei
Wilde Anzeichen, dass er selbst Angst davor hatte, alt zu werden, vgl. Funke, P.:
Oscar Wilde. Reinbeck bei Hamburg, 18. Auflage 2001, S. 92 – 93.
33 Nach Freud entsteht die narzisstische Neurose durch eine Umkehrung der Libido
weg von den Objekten auf das eigene Ich (vgl. Freud, S.: Vorlesung zur Einführung
in die Psychoanalyse und neue Folge. Fischer Taschenbuch Verlag 2000, S.
406.) Es handelt sich dabei um einen sogenannten sekundären Narzissmus, der im Unterschied zum primären Narzissmus erst im Laufe der menschlichen Entwicklung
einsetzt und dessen Ursachen zum Beispiel „der Verlust libidobesetzter Objekte
oder im Zuge einer unerwiderten Liebe erlittene Selbstwertverletzungen sein“
(Vierecke in Microsoft Encarta, 1999) können. Daher ist zu postulieren, dass Dorians
Verhalten ebenfalls ein sekundärer Narzissmuss ist, wobei dieser nicht durch
Verlust ausgelöst wurde, sondern bevor Dorian seine Libido auf ein anderes Objekt
richten konnte, bevor er die Liebe erlebt hat ( denn sein Oheim scheint keine liebenswerte
Person gewesen zu sein), wurde sein ganzes Empfinden (durch andere)
auf seine eigene Person gelenkt.

Er braucht die Bewunderung für seine Schönheit, seine Anziehungskraft, seine
Berühmtheit oder seine Macht – Attribute, die gewöhnlich im Laufe der Zeit
dahinwelken. Er ist unfähig, in Liebe und Arbeit Befriedigung zu finden und
wird gewahr, daß ihm wenig bleibt, wenn die Jugend erst hinter ihm liegt.34
Alter ist konnotiert mit Vergänglichkeit, die Urangst der Menschen vor dem
Tode kommt zum Tragen, eine Urangst, die die Menschen, mit welchen Mitteln
auch immer, zu bekämpfen und zu verdrängen suchen. Mit der Fixierung
auf ein Jetzt, dem Festhalten an Gegenwart und Jugend, soll die Zukunft, der
Eintritt von Verfall und Tod verdrängt werden. Gleichsam als wolle man die
Zeit anhalten, ohne sie anzuhalten: denn der Körper soll jung bleiben, das
Leben mit den möglichen Vorzügen und Privilegien aber weitergehen. Die
Angst vor der Vergänglichkeit, die der Tod mit sich bringt, ist aber nicht nur
eine Angst davor zu sterben, sondern auch die Angst davor, dass nach dem
Tode nichts Erinnernswertes übrig bleibt. Ein Grund für die Entwicklung der
Friedhofskultur liegt sicher hierin. Friedhöfe werden nicht nur als ein Ort der
Trauer definiert, sondern auch als ein Ort der Erinnerung an die Toten, eine
Erinnerung, die der Sterbende durch seinen letzten Willen stark mitgestalten
kann. Die Medizin arbeitet zwar immer stärker daran, den Tod weiter nach
hinten zu schieben,35 aber auch das kann natürlich den Menschen die Angst
nicht nehmen, da letztendlich der Tod doch unausweichlich ist. Verschärft
wird die Lage durch mehrere Elemente. Zunächst sind die Begriffe der Medizin
oftmals unverständlich und somit angsteinflößend, und die Vorgänge beim
Sterben bleiben zunehmend im Verborgenen. Gehörte der Tod noch vor einiger
Zeit zum Alttags- und Familienleben dazu, so wird er jetzt mehr und mehr in die
Anonymität abgeschoben.


34 Fetscher, I.: Die Verdrängung des Todes und die Hoffnung auf Unsterblichkeit. In:
Hoffmann, H. (Hrsg.): Jugendwahn und Altersangst, Frankfurt am Main 1988, S.
24.
35 Auf einem nordamerikanischen Kongress wurde berichtet, dass 70% der Gesamtausgaben
für ärztliche Bemühungen auf die letzten drei Monate des Lebens konzentriert
sind. (Fetscher (wie Anm. 34), S. 20)

Bestattungsfachleute beobachten, dass bei dem ohnehin selten gewordenen Tod
daheim meist größter Wert darauf gelegt wird, dass der Leichnam so schnell
wie möglich von dort verschwindet.
Die Sehnsucht nach ewigem Leben begleitet die Menschheit schon seit allen
Zeiten; Grabbeigaben der Urzeit lassen vermuten, dass die Menschen
schon damals an ein Weiterleben auf einer anderen Ebene geglaubt haben. Die
Religion, die früher Hilfe bieten konnte, scheint in der heutigen Gesellschaft
diese Funktion nicht mehr erfüllen zu können. Obgleich allen Religionen dieses
über den Tod hinausgehende Moment gemein ist, bietet die Transzendenz
in unserer säkularisierten Welt anscheinend nicht mehr genügend Halt. Der
Gläubige sieht Möglichkeiten, die aber nie frei von Zweifeln sein können.
Was wirklich beim und nach dem Sterben passiert, muss jeder selbst erleben,
und somit bleibt auch der Gläubige mit dem Erlebnis des Todes letztlich auf
sich selbst gestellt. Damit wächst auch die Gefahr, am Dorian–Gray–Syndrom
zu erkranken.
Die Krankheit kann das eigene Leben extrem einschränken, denn sie ist
nicht nur das Ergebnis einer fehlgeleiteten Identitätssuche, sondern auch eng
verwandt mit den psychopathologischen Krankheitsbildern der »Sozialen
Phobie« und der »Körperdismorphen Störung«. Unter Sozialer Phobie versteht
man die Angst der Betroffenen vor der Begegnung mit anderen in einer öffentlichen
Situation. Vorherrschend ist dabei die Furcht, sich in Gegenwart anderer
durch selbst übertrieben wahrgenommene Handlungen oder Körperreaktionen
(z.B. vermeintlich starkes Schwitzen oder vermeintlich starker Mundgeruch)
der Lächerlichkeit preiszugeben.
Das Hauptmerkmal der Sozialen Phobie liegt in der Angst vor der sozialen
Situation, dabei ist es nicht, wie bei der Agoraphobie, die Ansammlung (vieler)
Individuen an einem (eventuell zu kleinen) Ort, sondern es ist die direkte
Begegnung und die potentiell daraus resultierende Bewertung durch das Gegenüber,
die der Sozialphobiker fürchtet, was dazu führt, dass die Erkrankten
sogar das Kaffeetrinken im engsten Familienkreise vermeiden.36
Bei der körperdismorphen Störung liegt die wahnhafte Vorstellung vor, missgestaltet zu
sein.


36 Als körperliche Angstsymptome werden bei der Sozialen Phobie beispielsweise
folgende aufgeführt: „Herzrasen, Zittern, Schwitzen, Kurzatmigkeit, Erröten,
Harn- und Stuhldrang“ (Angenendt, J. / Frommberger, U. / Trabert, W. / Stiglmayr,
Ch. / Berger, M.: Angststörungen, in: Berger, M. (Hrsg.): Psychiatrie und Psychotherapie,
München / Wien /Baltimore 1999, S. 567 – 618, hier: S. 578)

Aufgrund eines verzerrten Körperselbstbildes glauben die Erkrankten, dass sie einen
körperlichen Mangel haben, der sie in den Augen anderer unattraktiv
erscheinen lässt. Diesen Mangel müssen sie beseitigen lassen, da sie
glauben, sonst nicht glücklich leben zu können. Hätten sie die Möglichkeit der
Projektion ihrer Ängste und Wünsche auf ein Bild, gleichsam in der Sündenbockfunktion,
würden sie diese sicher wahrnehmen, um „schön“ zu sein.
Doch was ist schön? Schönheit ist ein Wort, das beim Rezipienten ein ganzes
semantisches Wortfeld auslöst. Schönheitskriterien37 zu finden, die von
allen geteilt werden, scheint eine schier unlösbare Aufgabe zu sein. Jeder
Mensch hat seinen eigenen Geschmack, geprägt durch eine Kumulation aus
erzieherischen, medialen und kulturellen Aspekten. Vor allem die Kultur einer
Ära hat entscheidenden Einfluss darauf, was die Menschen als schön oder
gutaussehend empfinden. Während in den Zeiten der frühen Hochkulturen
aufgrund der eingeschränkten Lebensbedingungen dicke Menschen attraktiv
waren, mit Proportionen, wie man sie heute noch in den Nana - Skulpturen
von Niki de Saint - Phalle38 findet, verschob sich dieses Bild später. Heute
lassen sich Modells finden, deren Proportionen lebendigen Kleiderständern
gleichen, deren Magerkeit aber von den Modeschöpfern und Meinungsmachern
als via regia angepriesen wird.
Es ist mehr als fraglich, ob mit der Vorgabe von Schönheitsidealen die
Wirkung der Gesellschaft schon erfasst ist. Der Roman wirft die viel weiter
gehende Frage auf, ob das Individuum sich seiner Schönheit überhaupt aus
einem inhärenten Moment heraus allein bewusst werden kann oder ob sie ihm
immer erst durch die Betrachter bewusst gemacht werden muss. Dorian Gray
hat sich selbst zuerst gar nicht als schön gesehen, erst die Verbalisierung seiner
Vorzüge und die gleichzeitige Verbildlichung seiner selbst durch das Portrait
führten dazu, dass er sich als schön gesehen hat und über den möglichen
künftigen Verlust der Schönheit traurig wurde. „Das Bewußtsein seiner eigenen
Schönheit überkam ihn [Dorian Gray] wie eine Offenbarung. Er hatte sie
bis dahin nie empfunden. Basil Hallwards Komplimente hatte er lediglich für
die charmanten Übertreibungen eines Freundes gehalten. Er hatte sie sich
angehört, über sie gelacht, sie vergessen. Sein Wesen hatten sie nicht beeinflusst.
Ohne diese Bewusstwerdung39 hätte Dorians Leben und damit die ganze Geschichte, auch das Schicksal der jungen Schauspielerin und des Malers einen völlig anderen Verlauf genommen.


37 Schönheitskriterien der Attraktivitätsforschung lassen sich bei Henss (wie Anm. 2)
finden.
38 z.B. die Black Nana im Museum Ludwig in Köln.
39 Wilde (wie Anm. 8), S. 39

Darüber hinaus scheint es aber auch so, dass verbalisierte Komplimente
nicht den gleichen Eindruck auf die solipsistische Empfindung einer Person
haben, wie eine Photographie oder eine Bild – und so schließt sich der Kreis
wieder: man ist wieder am Bildnis des Dorian Gray angelangt. Ohne das Bildnis
gäbe es die Grayschen Veränderungen nicht in diesem Maße, hätte vielleicht
auch das Böse vermieden oder unterlassen bleiben können. Ohne das
Bild hätte Dorian das schlechte Gewissen in der Öffentlichkeit mit sich herumtragen
müssen, man hätte es ihm an der Nasenspitze angesehen, so aber
konnte es verborgen bleiben. Im Zeitalter der explodierenden Visualisierung
ist das ein Gesichtspunkt, der nach näherer Untersuchung geradezu schreit,
zumal dahinter noch ein anderer Komplex steht: die tendenzielle Gleichsetzung
von „schön“ und „gut“.
Natürlich wird niemand ernsthaft Schönheit als konkrete Alternative zu beruflichen
oder menschlichen Qualitäten oder als Ersatz für christliches Handeln
sehen. Der Roman gibt sogar einen kleinen Anstoß zu gedämpftem Optimismus,
wenn sich die Gesellschaft instinktiv von Dorian Gray abwendet,
trotz seines konstant guten Aussehens (oder weil es so widernatürlich konstant
ist!). Und dennoch lässt sich eine Gleichsetzung von „schön“ und „gut“ in
Ansätzen empirisch nachweisen! Diese zweifelhafte Gleichung ist das Kernstück
der Attraktivitätsforschung, die sich hauptsächlich mit der Auswirkung
von Schönheit auf mitmenschliche Beziehungen beschäftigt. In Untersuchungen
kam heraus, dass Schönheit neben anderen Paradigmen zwar nur eine
untergeordnete Rolle spielt, wobei Männer stärker wert auf die Attraktivität
der Frauen legen als umgekehrt,40 allerdings haben weitere Untersuchungen
ergeben, dass gutaussehende Menschen bei unabhängigen Betrachtern besser
bewertet werden als Menschen, die nicht so gut aussehen. „Lehrer analysierten
Schülerbogen (mit relevanten Informationen aus mehreren Jahren) mit der
Aufgabe, eine Prognose für die einzelnen Schüler zu stellen.


40 Vgl. Buss, D. M. et al.: International preferences in selecting mates. A study of 37
cultures. Journal of Cross – Cultural Psychology, 21, 5 – 47, in: Henss (wie Anm.
2), S. 9

Es zeigte sich, daß diese Prognose positiver ausfiel, wenn ein bestimmter Schülerbogen mit
dem Foto eines hübscheren Schülers (Einschätzung durch unabhängige Beurteiler)
gekoppelt war: Bei sonst gleichen Leistungen wurde den hübscheren
Schülern eine höhere Intelligenz zugetraut, und auch ein erfolgreicher Besuch
der Universität erschien nun wahrscheinlicher.41
Derartige Befunde sind zusätzliche Argumente, die Aufmerksamkeit nicht nur auf
das Dorian–Gray–Syndrom zu richten, sondern auch auf das Umfeld, in dem es gedeihen kann,
und vor allem auf frühe Ausformungen und Tendenzen. Es reicht nicht, den
von Medien vermittelten Idolen die Schuld zuzuschieben, es bedarf der frühen
Aufklärung und Bewusstmachung, und die kann nur schwierig sein.
Deshalb bietet sich an - auch vom Charakter dieser Festschrift her - aus
den vorgetragenen Beispielen und Befunden eine Skizze zu entwickeln, wie
man Kinder und Jugendliche an die Problematik heranführen, ihnen Gefahren
und Vermeidungsstrategien bewusst machen kann. Dazu werden sicher alle
drei Elemente: die gegenwärtige Erscheinung, die immer besonders schwer zu
durchschauen ist, die literarische Darstellung und das historische Beispiel
benötigt.
Als persönliche Erkenntnis sollte nicht nur erfasst werden, dass heute eine
starke Tendenz zur künstlichen Jugend besteht. Natürlich sollte man zum
Schluss wissen, dass heute Menschen ebenso wie Lord Wotton42 bereit sind,
alles für die Jugend zu tun – es darf nur keinen größeren Aufwand bedeuten.
Daher floriert auch das Geschäft mit Kosmetika und Schönheitsoperationen:
jeder kann, die richtige Menge Kleingeld vorausgesetzt, sich scheinbar um
Jahre verjüngen lassen. Doch - und das ist die wichtigere Erkenntnis - wird
damit nicht jugendliche Vollkommenheit gewonnen, sondern nur „die Maske
der Jugend“43 übergestreift; mehr als eine Maske kann eine solche Operation
nicht bieten; die „anoperierte“ Jugend ist nicht echt , eine Verkleidung, um die
wahre Person und die Ereignisse, die ihre Identität und ihr Wesen ausmachen,
zu verbergen. Aber auch das nicht dauerhaft, denn was dann doch noch bestehen
bleibt, sind die Erinnerungen in den Köpfen der Menschen des Umfelds,
die Photos aus vergangenen Zeiten: diese beherbergen das wahre Alter. So
gelingt es nur scheinbar oder höchstens teil- und zeitweise, das kalendarische
Alter zu verbergen, zumal solche kosmetischen Eingriffe, die dem eigentlichen
Zweck einer Operation nicht genügen können, in gewissen zeitlichen
Abständen wiederholt werden müssen. Und so unterliegt auch die künstliche jugendliche Vollkommenheit dem Verlauf der Zeit, und bisher gelingt es dem
Menschen nicht, dem Fluss der Zeit zu entrinnen.


41 Vagt, G. / Majert, W.: Wer schön ist, ist auch gut? in: Psychologische Beiträge, 21,
1979, S. 49 – 61, hier: S. 50.
42 „...ich würde alles in der Welt tun, um meine Jugend zurückzuerhalten, außer
Gymnastik, früh aufstehen und ehrbar werden“ (Gruenter (wie Anm.8), S. 301).
43 Wilde (wie Anm.8), S. 276

Eine der Hauptgefahren des Phänomens dürfte darin liegen, dass die
zugrunde liegenden Bedürfnisse von der sozialen Akzeptanz bis zum ewigen
Leben unterschätzt oder gar nicht gesehen werden. Hier ist das historische
Beispiel ebenso gefragt wie der Roman. Am höfischen Fest des Barock, an
Kleiderordnungen seit Karl dem Großen (um nur zwei Beispiele zu nennen)
kann ohne moralischen Zeigefinger erfahren werden, dass die äußere Erscheinung
ein wichtiger Teil der Persönlichkeit ist, aber nur im Zusammenhang mit
anderen Teilen funktionsfähig, oder anders ausgedrückt: der barocke König
braucht eine angemessene Kleidung, aber sie allein macht ihn noch nicht zum
Herrscher; „des Kaisers (bekanntlich nicht vorhandene) neue Kleider“ sind
ebenso erheiternd, um nicht zu sagen: lächerlich wie der Bauer im Rittergewand
oder die Dreijährige mit Papas Hut und Regenschirm. Die Abstimmung
zwischen gesellschaftlicher Erwartung und eigener Identität ist eine schwierige,
aber lösbare Aufgabe.
Bei hinreichender Lesefähigkeit bietet sicher auch Wilde´s Roman einen
guten Zugang, zumal er über seine autobiographischen Elemente trotz aller
phantastischen Züge eine erhebliche Nähe zur Realität nicht nur suggeriert.
Mit Hilfe des Romans versuchte Wilde, einen persönlichen Traum und damit
ein uraltes Motiv der Menschheitsgeschichte durchzuarbeiten und zu einer
Lösung zu kommen. Nicht nur, dass er sich selbst zum Kunstwerk stilisierte,
er nutzte auch die Möglichkeit der Kunst, sich in den Hauptpersonen seiner
Werke auszudrücken. Er projizierte seine eigenen Wünsche auf eine fiktive
Romanfigur (Dorian), suchte in der Fiktion, auf dem Papier, eine Utopie zu
realisieren. Damit gelang es ihm zumindest für kurze Zeit, sich mit einem
Problem in einer Art Selbsttherapie auseinander zu setzen, um dann später
eine Lösung zu finden, die für ihn der Vernunft am nächsten kam – es kann
für die Suche nach Jugend keine allgemeingültige und vor allem durchführbare
Lösung geben. Das gilt für die Zeit des Romans ebenso wie für die heutige;
insofern ist das Werk zeitlos gültig und die Benennung eines aktuellen Krankheitsbildes
nach einer vor mehr als hundert Jahren geschaffenen fiktiven Person
völlig angemessen, zumal sich auch in der aktuellen Erkrankung die
Grenzen zwischen Schein und Sein ständig verwischen.