Hessisches Ärzteblatt November 2000
 61. Jahrgang

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Das Dorian Gray-Syndrom

Haarwuchsmittel und andere „Jungbrunnen“



Von Dr. med. Burkhard Brosig und Professor Dr. med. Uwe Gieler, Gießen


Schlüsselbegriffe:
Propecia
life-style Medikamente
Dorian Gray Syndrom
androgene alopecia
Haarausfall
psychotherapie
psychoanalyse



Einleitung:


„Lifestyle-Medikamente“ sind in den letzten Jahren nicht zuletzt deshalb zu Modedrogen geworden, weil sie, dem Lebensstil einer durch Jugendkult und Sehnsucht nach körperlicher Vollkommenheit charakterisierten Gesellschaft (Stichworte hierzu wären etwa „fit for fun“, „Spaßgesellschaft“, „Erlebnisgesellschaft“) entsprechend, ohne große Mühe eine immer perfektere Anpassung an die Ideale einer normierten Schönheit versprechen.
Der Begriff „Dorian Gray Syndrom“ wurde dabei von uns (Brosig 2000) gewählt, um den dahinterliegenden Wunsch der Patienten zu unterstreichen, gleichsam gegen den Strom der Zeit zu schwimmen um damit ewig jung bleiben zu können. Der Name des Syndroms wurde dabei einem Romantitel von OSCAR WILDE entlehnt, in dem der Protagonist, eben Dorian Gray, seine Seele an den Teufel verkauft, um den Prozeß des Alterns nicht am eigenen Leib erleben zu müssen. Statt Dorian's Körper altert im Buch dessen Portrait, wird, durch dessen exzessiven Lebensstil bedingt, immer feister und verlebter, so daß der Romanheld beobachten kann, wie er aussehen würde, falls er diesem Lebenswandel und dem dazugehörigen Alterungsprozeß ausgeliefert wäre. Gleichzeitig bedeutet das Chiffre des Spiegels, im Roman durch das Motiv des Selbst-Portraits sowohl aufgenommen als auch permutiert, einen Anklang an die Selbstverliebtheit des Narzißten. In einem kurzen Text (Textbox) des englischen Dandy wird hochverdichtet die Künstlichkeit und Selbstbezogenheit der narzißtischen Haltung umrissen.
Kehrt man zum klinischen Bild des Syndroms zurück, so ist dieses diagnostisch dabei durch Symptome (Tab. 1) der Körperdysmorphen Störung, des mit narzißtischer Regression verbundenen sozialen Rückzugs und der Verleugnung persönlichkeitsstrukturierenden Reifung charakterisiert.



Der Schüler
(von Oscar Wilde)

Als Narziß starb, da wandelte sich der Teich seiner Freude aus einem Becher süßen Wassers in einen Becher salziger Tränen, und die Preaden kamen weinend durch den Wald daher, um dem Teich zu singen und ihn zu trösten. Und als sie sahen, daß sich der Teich aus einem Becher süßen Wassers in einen Becher salziger Tränen verwandelte, da lösten sie sich die Flechten ihres Haares, klagten und weinten und riefen: „Wir sind nicht verwundert, daß du in solcher Weise um Narziß trauerst, so schön war er.“ „War denn der Narziß schön?“ sagte der Teich. „Wer wüßte das besser als du“, antworteten die Preaden. „An uns ging er immer vorüber, aber dich suchte er auf, um an deinem Ufer zu liegen, auf dich herabzuschauen und in dem Spiegel deines Wassers seine eigene Schönheit zu spiegeln.“ Und der Teich antwortete: „Ich aber liebte den Narziß, wenn er an meinem Ufer lag und auf mich niederschaute, denn in dem Spiegel seiner Augen sah ich immer meine eigene Schönheit.

Tab. 1

Diagnostische Kriterien des Dorian Gray-Syndroms:

  1. Eine übermäßige Beschäftigung mit der äußeren Erscheinung (Körperdysmorphe Störung) besteht.
  2. Eingebildete oder minimale Fehler der äußeren Morphe werden mit Scham und sozialem Rückzug (narzißtische Regression) beantwortet.
  3. Neben der überwertigen Sorge um das äußere Erscheinungsbild besteht ein starker Wunsch, die Jugendlichkeit zu bewahren, somit nicht zu Altern und gleichsam sich gegen den Strom der Zeit zu stemmen (Verleugnung der Reifungsprozesse).

Kurze Fallskizze:

Eine kurze Fallskizze soll das psychodynamische Konzept veranschaulichen:
Ein 34-jähriger männlicher Patient stellt sich mit hohem Leidensdruck hinsichtlich seines Haarausfalls in einer Hautklinik vor. Nach ärztlicher Untersuchung wird ein altersentsprechendes Haarkleid (Stadium I nach Hamilton) im Sinne einer Normvariante festgestellt. Der Patient berichtet, nach der Heirat erstmalig im Haupthaarbereich dünnere und verstärkt ausfallende Haare bemerkt zu haben. An weiteren Beschwerden bestehen Schlafstörungen sowie Antriebsstörungen mit Abgeschlagenheit, Lustlosigkeit und schließlich wenig Lebensfreude.


Vorgeschichte:

Der Straßenbahnfahrer ist seit fünf Jahren mit einer Kollegin verheiratet und beide haben einen zweijährigen Sohn. Der Vater war Handwerker und ist 1988 gestorben. Der Patient wuchs ab dem dritten Lebensjahr, nach Scheidung der Eltern, bei der Mutter auf. Sich selbst bezeichnet der Patient als „Goldjunge“, da er als Einzelkind intensiv geliebt wurde und alles bekommen habe.
Hinsichtlich seines befürchteten Haarausfalles führt er ständige Kontrollen seines Aussehens durch. Die „Entstellung“ wird im Spiegel genau analysiert und ein extremes Pflegeverhalten mit häufigem Kämmen folgt. Insgesamt besteht bei einer depressiven Stimmungslage jedoch die Vernachlässigung von Freundschaften zugunsten einer engen Fixierung auf die Partnerschaft.


Ich sehe häßlich aus, mein Haar ist dünn, andere machen Späße über mein Aussehen, auch Frauen sprechen mich auf mein Aussehen an, ich sehe so alt aus. Ich kann mich im Spiegel nicht anschauen und versuche vergeblich, das Haar zurechtzukämmen. Meine Frau schneidet mir seit der Heirat die Haare und macht dabei immer wieder witzelnde und abwertende Bemerkungen über meine „lichten Stellen“. Auch meine Frau möchte, daß ich Finasterid (PROPECIA ® ) einnehme.

Der Patient setzte nun große Erwartungen in die neue Medikation, um im sozialen Umfeld wieder attraktiver zu werden und seiner Frau besser gefallen zu können. Aktuell befindet er sich im Vorfeld der Motivationsklärung für eine Psychotherapie. Betrachtet man die Aussagen des Patienten, so läßt sich die folgende Psychodynamik rekonstruieren:
Konflikte, die sich um die mit der Eheschließung erfolgten Progression und der nachfolgenden Generativität ranken, werden abgewehrt. Es kommt im Prozeß der Verleugnung der Reifung, die ja oft verbunden ist mit Aufgabe von libidinösen Besetzungen des eigenen Selbst (Stichwort: „Tätiges Leben“) zu einer reduktionistischen Sichtweise dieses Vorgangs mit ausschließlicher Betonung des Älter- (und Häßlicher)-werdens zu einem narzißtischen Rückzug auf die eigene Person, die Gedanken kreisen, wie bei einem Pubertierenden, nur noch um die äußere Schönheit. Die narzißtische Verwundung des Älterwerdens (Stichwort: „Jugendkult“) wird durch „verjüngende Maßnahmen“ konterkariert, in der Illusion, den Strom der Zeit umkehren zu können. Es entsteht dabei eine äußere ideal und unverwundbar gedachte Schale, ein Habitus der Zeitlosigkeit (Stichworte „Dorian Gray“ oder „Michael Jackson“). Psychodynamisch besteht somit ein Überwiegen narzißtischer Abwehrformen, teils auch um polymorph-perverse Tendenzen abzuwehren. Das Symptom der Körperdysmorphen Störung bietet hierbei, wie andere Symptome, die der Wahnbildung nahe stehen (vgl. Tab. 2), zunächst eine psychische Stabilisierung.



Tab. 2

Differentialdiagnose bzw. Komorbiditäten:
  1. Körperdysmorphe Störung (ICD-10 F45.2)
  2. Somatisierungsstörung
  3. Depressive Störungen
  4. Zwangserkrankungen
  5. Wahnhafte Störungen
  6. Angst- und Panikstörungen, bes. soziale Phobien


Therapie:

Finasterid (vgl. Tab. 3) wird gegebenenfalls gegeben, um einen Kontakt zum Patienten anzubahnen, seinen Wünschen entgegenzukommen, ihn, auf längere Sicht (Fallbeispiel) für eine Psychotherapie zu motivieren. Steht die depressive Verstimmung im Vordergrund, so eignen sich Serotonin-reuptake-inhibitors (SRI, wie Flovoxamin, Clomipramin) oder eine Kombination mit Pimozid zur Erhöhung der Wirkung von SRI zur Syndrom, Behandlung der psychischen Störung
parallel zur anzustrebenden psychotherapeutischen Behandlung (Tab. 4 in Anlehnung an Phillips 2000).


Tab. 3

PROPECIA ® (Finasterid) Wirkmechanismus:

4-Azasteroid, das die menschliche Typ-II 5-Alphareduktase hemmt und die periphere Umwandlung von Testosteron in das Androgen Dihydrotestosteron (DHT) blockiert.

Nebenwirkungen:
  1. verminderte Libido
  2. vermindertes Ejakulatvolumen
  3. erektile Dysfunktion
  4. Brustvergrößerung

Tab. 4

Behandlungsstrategien beim Dorian Gray-Syndrom:
  1. Psychodynamische Therapie bei motivierten Patienten
  2. Schwere Formen mit chronifizierter Körperdysmorpher Störung sollten zusätzlich Medikation erhalten.
  3. Die Psychotherapie sollte intensiv gestaltet sein (ggf. stationär bzw. hochfrequent), da häufig bereits chronifizierte Zustände anzutreffen sind.
  4. Kognitiv-behaviorale Methoden (Phillips 2000) werden alternativ zu den psychodynamischen Behandlungsansätzen empfohlen Behandlung der psychischen Störung parallel zur anzustrebenden psychotherapeutischen Behandlung (Tab. 4 in Anlehnung an Phillips 2000).

Diskussion:

Seit Christopher Lasch (1980) kennen wir den Narzißmus als kulturtypisches Zeitphänomen. Er ist verbunden mit einer Überbetonung von Jugendlichkeit, der Verleugnung der Vergänglichkeit, der Abwehr von strukturierenden Reifungsprozessen und den damit verbundenen Einschnitten im Leben des Menschen (Colarusso 1999). Wir haben diese narzißtische Trias mit Körperdysmorpher Störung, Selbstbezogenheit und Abwehr der Reife (und damit des Todes, Csef 1987) als Dorian Gray-Syndrom bezeichnet. Dieses Syndrom, in der dermatologischen Literatur auch als „Tersites-Syndrom“ bezeichnet - Tersites war der häßlichste Krieger im griechischen Heer in der Sage von Homer - spiegelt durch seine Namensgebung bereits die Pathologie der eigenen Selbstentfremdung wider. Auch die Männer werden ja mittlerweile erfaßt von einer Fetischisierung des Leibs, die Körperlichkeit, Erotik und damit die Sexualität den Normierungsprozessen einer Warenästhetik unterwirft.
Die dabei klinisch oft zu beobachtende Körperdysmorphe Störung gilt als ein Symptom, das phänomenologisch zwischen Hypochondrie, Depression, Zwangsstörung und Wahnerkrankung situiert ist. Die Behandlung erfordert, nach Motivationsklärung, den beherzten Einsatz einer intensiven Psychotherapie, die ggf. in Kombination mit Antidepressiva und Neuroleptika erfolgt. Das „Life-style“- Medikament Finasterid kann ggf. zur Stabilisierung der Arzt-Patient-Beziehung
und in der Motivationsphase einer Psychotherapie gegeben werden.


Anschrift des Verfassers: Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie Klinikum der Universität Gießen Ludwigstraße 76 35392 Gießen


Literatur:
  1. Colarusso CA. The development of a sense of time in middle adulthood. Psychoanal Q 1999;68:52-83.
  2. Cotterill JA. Body dysmorphic disorder. Dermatol Clin 1996;14:457-463.
  3. Csef H. Tod und Neurose. Angst, Todestrieb, Objektverlust und Narzißmus auf dem Hintergrund humaner Todeserfahrung. Fortschr Neurol Psychiatr 1987;55:164-73.
  4. Lasch C. Das Zeitalter des Narzißmus. Steinhausen, München 1980.
  5. Phillips KA. Body dysmorphic disorder: Diagnostic controversies and treatment challenges Bulletin of the Menninger Clinic 2000;64:18-35.
  6. Stangier U, Gieler U. Somatoforme Störungen in der Dermatologie. Psychotherapie 1997;2:91-101.